Wichtig ist die eigene Erfahrung
Ein einfaches Beispiel verdeutlicht dies: Wie schwer ist es einem Außenstehendem,
der noch nie einen Apfel gegessen hat, seinen Geschmack zu schildern. Sauer,
süß, saftig ... man müßte Umschreibungen finden,
sich verbale Krücken bauen. Lassen wir diesen Menschen den Apfel doch
einfach probieren - und weitere Worte werden überflüssig. Die
eigene Erfahrung, das eigene Erleben, sind mit einer noch so gut mündlich
oder schriftlich übermittelten Schilderung oder Beschreibung nicht
zu vergleichen. Und: Erleuchtung ist so sicher, wie die Kartoffelernte
der Bauern, nachdem er Kartoffeln gesät hat. Früher behaupteten
die Weisen, durch Wissen verstehe man 10 Prozent, durch Erleuchtung aber
erkenne man das Ganze (100 Prozent).
Vorab ein Beispiel, die Weihnachtsgeschichte.
Jedes Jahr zu Weihnachten bleiben viele Kinder lange in der Nacht auf,
in der Erwartung, der Weihnachtsmann werde in seinem weißroten
Kostüm und schneeweißen langem Bart auf seinem von Hirschen
gezogenen Schlitten vom Himmel herab kommen, während sie schlafen.
Voller Geschenke beladen, betritt er heimlich die Wohnung. Aber sie möchten
nicht schlafen, möchten ihn ertappen, wenn er durch den Kamin kommt
und harren, obwohl müde, voll Spannung und Erwartung aus.
Begreifen und Erleuchtung
Die Kinder glauben an die Weihnachtsgeschichte und zweifeln nicht im
geringsten an ihren Wahrheitsgehalt. Wie sonst ließe sich deren Begeisterung
erklären? Aber die Kinder wachsen, sie werden älter und fangen
an zu zweifeln und zu hinterfragen, sie erkennen allmählich, daß
es ihren Nikolaus nicht gibt, sie sind enttäuscht. Später lachen
sie darüber, sagen schmunzelnd, daß sie ganz klein waren, als
sie daran glaubten und gestehen auch ein, daß dieses "naive Glauben"
ja auch schön war.
Das Kind konnte durch die eigene Entwicklung und Erfahrung die Geschichte
begreifen und in Beziehung setzen.
Weitergabe der eigenen Erfahrung
Das ist ein vielen von uns bekanntes Beispiel für eine Verbindung
von Religion und Erleuchtung, auch wenn einige es nicht so benennen würden.
Das Kind erfährt noch viele andere Erfahrungen dieser Art und wird
langsam auf seine zukünftige Elternrolle vorbereitet.
In der Regel geben sie dann das weiter, was sie selbst erfahren haben.
Als Eltern nehmen sie ihre Bemühungen ernst, unabhängig vom Wahrheitsgehalt
der Geschichte und inszenieren sie wiederholt für ihre Kinder.
Dieses liebevolle Bemühen kommt aus der Erleuchtung heraus, die
die Eltern (oder ein Elternteil) selbst gehabt haben: dies wollen sie nun
ihren Kindern zukommen lassen. Sie lassen sich durch ihre Erfahrung und
Intuition leiten und gehen die Weihnachtsmanngeschichte nicht mit rational/analytischem
Wissen an. Es gibt natürlich auch Menschen, die sich aufgrund einer
bestimmten Überzeugung anders zu so einer Geschichte verhalten. Und
wie beurteilen und stehen wir selbst zu Menschen, die als Erwachsene am
Kamin sitzen und mit voller Überzeugung auf den Weihnachtsmann warten,
oder die mit großer Anstrengung die Lüge der Geschichte aufdecken
möchten, oder jene wiederum, die ernsthaft von sich behaupten, der
Weihnachtsmann zu sein?
Wie kommt es, daß Leute mit so vehement konträren Ansichten
darüber diskutieren, wer nun recht hat und wer nicht. Warum bleiben
sie an der Oberfläche der Geschichte haften, anstatt einfach den Nutzen
aus ihr zu ziehen?
Das unbedingte Rechthabenwollen
Ich möchte dazu ein anderes Beispiel geben: wenn mehrere Personen
zu einer Party eingeladen sind, wird jeder sein Transportmittel wählen,
um das Fest zu erreichen. Ein Autofahrer schwört auf sein Auto, ein
Radfahrer aufs Rad, ein Fußgänger geht zu Fuß, und ein
Anhänger der öffentlichen Verkehrsmittel bevorzugt das öffentliche
Verkehrsnetz. Wenn schließlich alle angekommen sind, ist nur das
erreichte Ziel von Bedeutung. Man wird nicht sagen, daß eine Meinung/Wahl
eines (Transport)mittels falsch war. Warum fällt es uns so schwer,
das von Vornherein zu erkennen?
Großmeister
Johann Whang
TAEKWONDO AKTUELL 7/94
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